Höflichkeit in Japan – Ein Selbstverständnis der Ehre

Höflichkeit in Japan – Ein Selbstverständnis der Ehre

Japaner sind meistens sehr höflich – das ist fast auf der ganzen Welt bekannt. Doch wir im Westen wissen es ja wie so oft besser. Das ist doch alles nur gespielt, die sagen was anderes als sie denken.

In der Tat tragen Japaner ihr Herz nicht immer auf der Zunge. Doch ist die Höflichkeit dadurch unehrlich? Gespielt? Ich finde nicht!

Höflichkeit entspringt in Japan einem ganz eigenen Selbstverständnis, dass meiner Meinung nach eher lobenswert ist. Und es ist der Ausdruck einer ganz anderen Art der Ehre, als wir sie kennen.

In Japan beschmutzt man die Ehre selbst

In Deutschland kotzt mich der Begriff der Ehre an, der vor allem von Jugendlichen gerne ein Grund für Gewalt ist. Wir fühlen uns von anderen in unserer Ehre angegriffen – und das wegen Kleinigkeiten. Wie gering muss das Selbstwertgefühl sein, dass man seine Ehre von ein paar tumben Worten angekratzt sieht?

In Japan gibt es vor allem eine Person, welche die eigene Ehre oder die der Familie ankratzen kann: Man selbst. Mir gefällt dieser Ansatz deutlich besser. Die Gefahr für meine eigene Ehre nicht woanders suchen, sondern vor allem vor der eigenen Haustür kehren. Mir bewusst machen, was mein Handeln für mich, meine Familie aber auch andere bedeutet.

Das ist tief in der japanischen Kultur verankert. Und so sehr ich das Konzept mag, ist es trotzdem auch nicht ohne Probleme. Keine Schande über die eigene Familie zu bringen, ist auch ein großer Druck und kann sogar von der Familie selbst kommen. Ein gutes Beispiel ist der Anfang des Spiels Persona 5. Dort kommt der Hauptcharakter an eine neue Schule in Tokio, nachdem er einen Mann tätlich angegriffen hat. Eigentlich half er nur einer Frau, die von einem Mann angegriffen wurde. Diese wollte den Makel körperlich belästigt worden zu sein aber nicht auf sich nehmen und sagte nicht gegen den Mann aus, weshalb der Hauptcharakter nicht nur die Schule wechseln musste, sondern auch gleich als „Krimineller“ gebrandmarkt ist.

Es mag nur ein fiktiver Fall sein, aber es schwingt dabei auch Kritik an den Schattenseiten der japanischen Gesellschaft mit. Es ist nicht unüblich, dass Frauen in Japan Belästigung verschweigen oder man für Dinge verurteilt wird, dessen Hintergründe andere nicht kennen. In dieser Hinsicht kehren Japaner dann doch nicht immer nur vor der eigenen Tür.

Japanische Höflichkeit beinhaltet Dankbarkeit

Bemerkenswert an der japanischen Höflichkeit ist eine generelle Dankbarkeit. Diese ist fest in der in der Kultur verankert. Sie entspringt auch gewissermaßen dem Zen-Buddhismus. In Japan sind wenige wirklich gläubig, aber sowohl der Zen-Buddhismus als auch der Shintoismus werden trotzdem geehrt und mehr als wichtiger Teil der Kultur gepflegt.

Das spiegelt sich auch in der Sprache wieder. Vor dem Essen sagt man in Japan oft „Itadakimasu“. Man mag meinen, dass es in etwa „Guten Appetit“ bedeutet. In der Tat bedeutet es aber übersetzt in etwa “Ich werde es demütig akzeptieren.”

Das klingt auf den ersten Blick nicht nach dem Wunsch, dass es gut schmeckt. Ist es auch nicht. Es drückt eine noch viel tiefere Dankbarkeit, genauer gesagt Demut aus. Eine Demut für den Koch, der das Essen zubereitet hat, aber auch eine Dankbarkeit für den Bauer, den Fischer und das Tier selbst, dass ein Opfer brachte, damit man selbst dieses Essen genießen darf. Sicherlich wird sich nicht jeder Japaner dieser tiefen Dankbarkeit derart bewusst sein, wenn er es sagt. Etwas das sogar in der Sprache verwurzelt ist färbt aber trotzdem auch unweigerlich auf die Menschen ab.

Japanische Höflichkeit achtet den Besitz anderer und aller

Ebenfalls ein Selbstverständnis der japanischen Kultur ist das achten fremden oder allgemeinen Eigentums. Das ist auch ein Teil der zuvor erwähnten persönlichen Ehre. Der Japaner ist nicht nur für sich verantwortlich, sondern auch für das Wohl anderer.

Das ist beispielsweise der Grund, warum sich in der U-Bahn in Japan vorbildlich verhalten wird. In Japan stellt man die Füße nicht auf anderen Sitzen ab oder schreibt mit Edding pseudolustige Botschaften auf die Sitze. Es ist eine Art Eigentum der Allgemeinheit und das behandelt man pfleglich. Auch ist man in der Bahn nicht laut. Für viele Deutsche wird es in öffentlichen Verkehrsmitteln befremdlich leise sein. Der Japaner möchte die anderen nicht mit lauten Gesprächen stören ist und verhält sich darum entsprechend. Auch das ist eine Art der Demut.

Kann man das wirklich eine schlechte Eigenschaft nennen? Wir sind oft so besessen von der eigenen Freiheit, dass wir dabei unsere Umgebung aus dem Auge verlieren. Ja, es schränkt einen selbst mit Sicherheit ein, aber es ist auch schade, dass wir in unserem Streben nach Freiheit so wenig darauf achten, ob wir damit nicht andere stören könnten. Ich bin allerdings auch ein eher in mich gekehrter Mensch und fühle mich beim Gedanken an stille Bahnen nicht wirklich eingeschränkt.

Straßen, von denen man essen könnte

Nagut, wirklich essen sollte man vermutlich auch in Japan nicht vom Asphalt – auch wenn man gerne von „Straßenbelag“ spricht. Aber Japan ist wirklich ein unglaublich sauberes Land. Fast jedem Touristen bleibt vor allem im Kopf, wie sauber die Städte sind.

Das ist noch etwas verblüffender, wenn man auf die Mülleimer schaut. Diese sind in der Öffentlichkeit nämlich nicht wirklich vorhanden. In Japan ist es völlig normal, den eigenen Müll im Rucksack mit nach Hause zu nehmen und ihn dort zu entsorgen. Dabei wird in Japan vieles doppelt und dreifach verpackt.

Manchmal fragt man sich, wieso wir es nicht hinbekommen unseren Müll anständig zu entsorgen, obwohl wir eigentlich immer einen Mülleimer in Sichtweite haben. Wie es aussähe, müssten wir unseren Müll von unterwegs auch Zuhause entsorgen, mag ich mir kaum vorstellen. Aber auch hier geht es eben darum, dass man als Einzelner auch für das Wohl andere mit Verantwortlich ist und dazu auch eine saubere Umgebung gehört.

In Japan kommt darüber hinaus noch eine sehr strenge Mülltrennung dazu. Deutschland gilt ja schon als sehr ordnungsbewusst – In Japan ist falsch entsorgter Müll aber fast schon ein Verbrechen. Allerdings ist die Müllweiterverarbeitung aufgrund der Bevölkerungsdichte und Insellage für Japan auch sehr wichtig. Dazu wird vermutlich auch noch ein spannender Beitrag kommen.  

Manchmal sind Höflichkeiten kulturell auch einfach unterschiedlich

Kulturelle Unterschiede sind aber auch keine Einbahnstraße. Vergleicht man Japan und Deutschland, läuft man Gefahr, sich selbst als barbarisches Volk zu sehen. Dabei übersieht man oftmals, dass es auf beiden Seiten ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von Höflichkeit gibt.

Besonders fällt mir das auf beim „Senpai“ von den TOKYOmaniacs. Dieser hat schon mehrfach erwähnt, dass er sich selbst an diversen Körpergeräuschen stört, die in Japan allgegenwärtig sind. In Japan wird beim Essen geschlürft und lieber die Nase hochgezogen als geschnäuzt. Das ist in Japan eher höflich, wäre in Deutschland aber eher ein No-Go. Wir essen lieber leise und schnäuzen lieber einmal kräftig die Nase, als den Schnodder kräftig hochzuziehen.

Auch Japaner haben also die Höflichkeit nicht nur für sich gepachtet, sondern folgen eben ihren eigenen Gesetzen. In Europa müssten auch sie einige Gegebenheiten lernen, um als höflich zu gelten. Bei der Grundeinstellung der Japaner denke ich aber, dass sie durchaus darauf bedacht sind, dem Europäer nicht all zu negativ aufzufallen, wenn sie dort für längere Zeit leben und sich den „Höflichkeitsfallen“ bewusst sind.

Japanische Höflichkeit bedeutet auch Hierarchie

Während eine gewisse Achtsamkeit gegenüber seines Gegenübers und der Allgemeinheit wohl etwas ist, dem wir eigentlich alle zustimmen können, ist die japanische Gesellschaft nicht immer so einfach. Für unsere westliche Aufgeklärtheit schwerer zu verdauen ist die japanische Hierarchie und alles, was damit zusammenhängt. Diese ist nämlich Fluch und Segen zugleich.

Während wir uns selbst bei starken gesellschaftlichen Schichten mittlerweile halbwegs auf Augenhöhe begegnen, werden in Japan starke Unterschiede gemacht. Auch das liegt zum Großteil auch mit in der Sprache begründet.

Die japanische Sprache kennt zwar auf der einen Seite weder Geschlecht noch Singular und Plural, dafür aber Höflichkeitsformen, die ein wichtiger Bestandteil sind. Wie Japaner etwas formulieren hängt stark davon ab, wie die Beziehung zueinander ist. Die Sprache ändert sich entscheidend je nachdem, ob man in etwa gleichgestellt ist, über oder unter seinem gegenüber steht. Mal ändert sich nur ein Anhängsel an einem Wort, teils gibt es aber auch komplett unterschiedliche Formulierungen.

Ihr fragt euch womöglich was daran positiv sein soll. Die Hierarchie sorgt dafür, dass eine gewisse Höflichkeit überhaupt funktioniert. Wir kennen es selbst im geringen Umfang mit dem Siezen, dass unter bestimmten Umständen eben ein Automatismus ist. Diese Automatismen sind wichtig für die Höflichkeit.

In Japan geht dies aber manchmal etwas zu weit – etwa im Arbeitsleben. Für Japaner ist es ein Akt der Unhöflichkeit, Freizeit zu haben, während der Vorgesetzte arbeitet. Darum sind viele Angestellte vor ihren Vorgesetzten im Büro und verlassen es erst, wenn auch der Vorgesetzte in den Feierabend geht.

Etwas verständlicher ist da, dass man andere nicht die eigene Arbeit machen lässt. Das sorgt aber oft dafür, dass man selbst den Urlaubsanspruch nicht ausreizt. Japaner haben ein schlechtes Gewissen, wenn im Urlaub andere die eigene Arbeit machen müssen. Darum verzichten sie lieber auf ihren Urlaub, als dass jemand anderes für sie einspringen muss. Gerade angesichts dessen, dass Japaner oft ihre Arbeitszeit „abbummeln“, weil nicht genug zu tun ist, ist das manchmal sogar etwas absurd – aus westlicher Sicht.

Von der Höflichkeit in Japan kann man sich einiges abschauen

Die Höflichkeit in Japan unterscheidet sich deutlich von der in Deutschland. Das liegt vor allem an einem ganz anderen Selbstverständnis der Ehre. Außerdem ist es fest in der Kultur und sogar der Sprache verwachsen. Allein deshalb lässt sich die Ausprägung der Höflichkeit nicht einfach in andere Länder übertragen. Und es gibt mitunter auch Schattenseiten der Höflichkeit, vor allem im Arbeitsleben der Japaner.

Trotzdem kann man sich das ein oder andere Scheibchen abschneiden. Den Grundsatz, dass die Ehre vor allem auch vom eigenen Verhalten abhängt, finde ich persönlich besonders gut. Auch den achtsameren Umgang, was Verschmutzung oder Störung in der Öffentlichkeit angeht, finde ich für jeden erstrebenswert. Ein Aufenthalt in Japan und vor allem die Rückkehr kann einem daher schon die Augen dafür öffnen, was saubere Straßen, ruhige Bahnen und eine generelle Höflichkeit gegenüber anderen tatsächlich Wert ist.


Image by Andy Kelly via Unsplash

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